Univ. Prof. Dr. Christian Popow im Interview mit der Gesellschaft für Ethik

In Ihrem Vortrag erwähnen Sie folgendes Zitat: „Wer sein Kind gut erzieht, kann auch ein Land regieren.“ Wir leben in einer Zeit, in der Eltern vor allem beruflich sehr unter Druck stehen und wenig Zeit für ihre Kinder haben. Welchen Rat können Sie Eltern geben?

Wer die schwierige Aufgabe, die Entwicklung der Persönlichkeit eines Kindes vom Beginn des Lebens bis zur definitiven Eigenverantwortung rücksichtsvoll zu unterstützen und zu fordern meistert, wer in diesem Prozess gelernt hat, sich selbst im Interesse eines ständig nahen Anderen zurückzunehmen und sich mit allem Wissen und aller Einfühlungsgabe kontinuierlich verantwortungsbewusst, selbstlos und liebevoll auseinanderzusetzen, hat in diesem Prozess wahrscheinlich so viel gelernt, dass er von seiner Persönlichkeit die Voraussetzungen erfüllt, eine verantwortliche Aufgabe im Interesse des Gemeinwohls zu übernehmen. Was Du im Kleinen meisterst, kannst Du vielleicht auch im Großen, wo Du im Kleinen versagst, wirst Du auch im Großen nicht erfolgreich sein. Bist Du eigennützig, uneinfühlsam, rücksichtslos, willst Du mehr als Du selbst kannst, wirst Du Deine Aufgabe weder im Kleinen noch im Großen erfüllen. Sind Dir Ideen wichtiger als Menschen, ist Dir persönlicher Erfolg wichtiger als das Wohl des Anderen, ist Dir kurzfristiger Erfolg wichtiger und verlierst Du deshalb kurzsichtig das große Ziel aus den Augen, so bist Du im Kleinen wie im Großen ungeeignet. Ein Kind gut zu erziehen und ein Land weise zu regieren erfordert Liebes- und Kommunikationsfähigkeit, klares, rücksichtsvolles Denken, Einfühlungsvermögen, Offenheit, Ehrlichkeit, Uneigennützigkeit, Großzügigkeit trotz sparsamer Ressourcenverwaltung, ein Gefühl für das Wichtige und Wesentliche, Zeit für sich und für Andere.

Immer mehr Kinder leiden unter Konzentrationsschwäche. Woher kommt das Ihrer Meinung nach und welche Rolle spielt hier die Schule?

Es ist unklar, ob die Häufigkeit von Konzentrationsproblemen oder das Bewusstsein, dass „schwierige“ Kinder nicht einfach „schlimm“ sind sondern durchaus Schwierigkeiten in ihrer Informationsverarbeitung und Handlungssteuerung haben, zugenommen hat. Tatsache ist, dass es medizinisch möglich geworden ist, Kindern mit solchen Problemen auf relativ einfache Weise zu helfen, sodass sie ihr intellektuelles Potenzial auch unter den Bedingungen der modernen Leistungsgesellschaft „optimal“ nützen können.

Der Vorwurf, die Pharmaindustrie hätte eine neue Krankheit „erfunden“, mit der sie ihre Gewinne vermehren kann, ist genauso haltlos wie die Vorwürfe, dass die Lebensbedingungen des 20. und 21. Jahrhunderts (von Medienkonsum bis Familienstruktur und von dramatisch gestiegenem Arbeitsdruck bis zum Zerfall der Kernfamilie) oder die unengagierte Schule (samt ihren unfähigen LehrerInnen) Schuld haben, dass Kinder ihre Bildungsziele immer mehr verfehlen.

ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom) ist ein definiertes klinisches Syndrom, das genetische Wurzeln und eine Vielzahl von Begleitproblemen hat, das mit nachweisbaren neurophysiologischen Defiziten und klaren sozialen Nachteilen einhergeht. Diese Probleme sind aber einer medikamentösen und funktionellen Therapie sehr gut zugänglich, wobei die Behandlung nicht nur den Schulerfolg sondern auch den häuslichen Frieden und nicht zuletzt auch Selbstwert und Leistungsmotivation dramatisch verbessern kann. Ein Drittel der nicht behandelten Kinder mit ADHS sind depressiv, ein großer Teil hat Schwierigkeiten mit der Akzeptanz in der Peer Group, viele müssen mit Dauerermahnungen, unverständigen Kommentaren, schlechteren Noten, häufigeren Schulwechseln oder Klassenwiederholungen rechnen. ADHS ist eine Spektrumerkrankung mit Unterschieden in Art und Schweregrad der Symptome, in den Begleiterscheinungen und im Ausmaß der Beeinträchtigung. Therapie dient primär den Kindern und ihren Familien, sekundar natürlich auch der Schule und der Gesellschaft, die weniger Aussteiger „erhalten“ muss.

ADHS Therapie rechnet sich individuell und gesamtwirtschaftlich. In der Therapie bewirkt das Medikament (wenn es wirkt) eine 90%ige Verbesserung der Symptome, der Rest muss durch Ergotherapie, strukturierte Maßnahmen und Lerntherapie verbessert werden. Gerüchte von Medikamentenabhängigkeit, Suchtpotenzial usw. sind eindeutig widerlegt, Methylphenidat (Ritalin, Concerta & Co) sind definitionsgemäß keine Suchtmittel, da sie nicht euphorisierend wirken, kaum Wirkungseinbußen bei längerem Gebrauch zeigen und auch keine Entzugssymptome beim Absetzen hervorrufen. Gewinner einer Therapie (wenn sie notwendig ist) sind jedenfalls die Kinder, die nicht mehr ausgegrenzt, für dumm, unwillig oder für Versager gehalten und depressiv werden, sondern ihren verdienten Platz in der Gesellschaft einnehmen können. Nicht zuletzt sind Kinder mit ADHS vielseitig interessiert, kreativ, sozial engagiert und hilfsbereit. Für bestimmte Berufe (z. B. Journalist, Forscher, Schauspieler) ist ein ADHS Anteil fast „notwendig“.

Die Rolle der Schule sollte eine verständnis- und rücksichtsvolle sein, die Kinder mit eindeutigen Symptomen erkennt, die Eltern auf das Problem aufmerksam macht und zumindest eine psychiatrisch-psychologische Abklärung empfiehlt. Auch, wenn unbehandelte Kinder mit ADHS mitunter schwierig in der Klassengemeinschaft zu halten sind, verdienen sie, dass ihre Stärken gewürdigt und sie wegen ihrer zusätzlichen Probleme (wie Legasthenie, motorische Ungeschicklichkeit, Vergesslichkeit usw.) unterstützt werden. Insbesondere Legasthenie wird noch immer nicht als neurophysiologisches, schwer zugängliches Problem gesehen, das insbesondere in der Leistungsbeurteilung berücksichtigt werden muss (derzeit ist die (automatische) Verbesserung um eine Note in Deutsch bei Legasthenie nur eine Kannbestimmung, an die sich viele Lehrer nicht halten).

Sie haben über Verantwortung des Einzelnen in der Gesellschaft gesprochen. Wie können wir allgemein pflichtbewusster handeln?

Jeder Mensch erfüllt soziale Aufgaben, allein, in der Familie, im Freundeskreis, am Arbeitsplatz usw. Jeder Mensch bestimmt durch seine Persönlichkeit, seine Wertvorstellungen, sein kritisches Denken und Handeln auch das Verhalten der Gemeinschaft, im Kleinen wie im Großen. Nicht jeder ist zum Helden geboren, nicht jeder verfügt über die Gabe der Zivilcourage, nimmt auch negative Konsequenzen in Kauf, wenn er in der Öffentlichkeit zu seiner Meinung steht. Es ist wichtig, dass es solche Menschen gibt, wer aber über solche Fähigkeiten nicht verfügt, muss trotzdem nicht alles akzeptieren und damit unterstützen. Indem wir uns möglichst objektiv informieren, indem wir uneigennützig denken und handeln und Ungerechtigkeit nicht akzeptieren, tragen wir zu einer kritischen öffentlichen Meinung und damit zum Gemeinwohl bei. Kollektiver Widerstand gegen Ungerechtigkeit, Neoptismus, menschenverachtendes Denken und Handeln beginnt beim Einzelnen, in der Familie, im Freundeskreis, am Arbeitsplatz usw. Wer zu Unrecht schweigt, macht sich mitschuldig, wer seine soziale Aufgabe ernst nimmt, hilft beim Aufbau einer kritischen und damit leistungsfähigen Gesellschaft.

Sie haben gesagt, dass die Deklaration der Menschenrechte vom Humanisten und Richter Ostad Elahi geschrieben sein könnte. Inwieweit hat Sie selbst das Leben von Richter Elahi inspiriert?

Was ich von Ostad Elahi kennengelernt habe, klingt einfühlsam, uneigennützig, weise. Sein Leben im Dienste der Musik, der Rechtswissenschaft und der Humanität mit realistischen, uneigennützigen Idealen, einem nie erlahmendem Interesse für Menschen und einem Sinn für das Wesentliche rechtfertigt seine Stellung als vorbildlichem Denker. Der wesentliche Inhalt der Menschenrechte ist, dass alle Menschen frei und gleich an Würde und Rechten geboren sind. Dass jedem Menschen ohne Rücksicht auf Herkunft, Sprache, Vermögen, politischer oder religiöser Überzeugung usw. wo auch immer die gleichen Rechte auf Freiheit, Bildung, selbstbestimmte Lebensgestaltung usw. zustehen. Die Menschenrechte sind vom Glauben an Würde und Wert jedes Einzelnen und vom Glauben an Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit als Grundbedingungen des menschlichen Daseins bestimmt. Dies entspricht auch dem Menschenbild von Ostad Elahi, der die Würde des Einzelnen in den Mittelpunkt seines religiösen, philosophischen und juristischen Denkens stellt. Nur ein Gerechter, der die Gerechtigkeit, die Würde und den Wert des Einzelnen als höchstes Gut wertschätzt, ist auch wert, dass man ihn ernst nimmt und ihm zuhört. Ostad Elahi sucht und findet Entsprechungen im Verhalten des Einzelnen und der Gesellschaft. Nur wer sich im Kleinen bewährt, wird im Großen erfolgreich sein. Nur wer verantwortungsbewusst denkt, kann auch Verantwortung für Andere übernehmen.

Die Rechte und die Therapie von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Problemen liegen Ihnen am Herzen. Rechte anderer zu respektieren ist eine universale ethische Pflicht: Wie sollen wir das in die Praxis umsetzen? Wo sollen wir beginnen?

Die gesundheitlichen Anliegen von Kindern, insbesondere von psychisch kranken Kindern, sind insofern schwerwiegend, als mit relativ wenigen Mitteln unglaublich viel für das ganze Leben dieser Kinder erreicht werden kann. Armut, schwierige Familienverhältnisse und die Schulen sind „Hauptlieferanten“ der Kinder- und Jugendpsychiatrie.

Es widerspricht dem Geist der Menschenrechte, dass der Zugang zu Bildung und adäquater Behandlung von den Vermögensverhältnissen der Eltern abhängt! Es ist abgesehen von den unausgesetzten persönlichen Misserfolgserlebnissen und den wirtschaftlichen Folgen eines negativen Einkommens eine unglaubliche Verschwendung öffentlicher Ressourcen, z. B. Kinder mit sensorischen Integrationsstörungen oder Autismus wegen kurzsichtiger „Sparpolitik“ nicht rechtzeitig (=so früh wie möglich) zu behandeln, sondern sie erst später halbherzig oder auch gar nicht zu behandeln, wenn ihre Therapie (inklusive Sonderbeschulung) wegen der Folgewirkungen, wegen der im Vergleich zu nicht betroffenen Kindern größer gewordenen Defizite und der negativen persönlichen Erfahrungen wesentlich aufwändiger und weniger erfolgversprechend ist, oder sie gar lebenslange institutionelle Unterbringung benötigen. Warum müssen Lern- und Teilleistungsstörungen, die einen klaren medizinischen Hintergrund haben, pädagogisch (=voll zu bezahlen) und nicht psychologisch (auf Krankenschein) „behandelt“ werden, warum werden die Schulgesetze nicht aktualisiert, sodass z. B. Lese- Rechtschreib-Schwäche als medizinisches Problem (und damit unbedingt berücksichtigenswert) und nicht als schulische Leistungsschwäche, die nur bis zu einem bestimmten Alter und auch nicht unbedingt berücksichtigt werden muss, gesehen wird. Warum gibt es nach wie vor weniger als 50 % Behandlungskapazität für psychisch kranke Kinder? Warum ist nachhaltiges Denken politisch so schwer umzusetzen? Was kann der Einzelne tun?

– Zunächst ist kollektives Bewusstsein notwendig, eine Lobby für Kinder mit psychischen und Entwicklungsproblemen. Dieses kollektive Bewusstsein beginnt beim Einzelnen und wird zunehmend größer bis es auch politische Folgen zeigt. Informationen gibt es z. B. unter www.polkm.org und  www.kinderjugendgesundheit.at.

– Nachhaltiges Denken beginnt im eigenen Wirkungsbereich, zuhause. Nur, wenn wir sparsam mit unseren Ressourcen (den Zukunftschancen unserer Kinder) umgehen, werden wir genug Reserven in der Gegenwart und für die Zukunft haben.

– Treten Sie aktiv gegen Mobbing und Ausgrenzung ein! Versuchen Sie, Ihre Kinder für ungerechtes Verhalten zu sensibilisieren. Mobbing und Ausgrenzung haben schwerwiegende Folgen bis zur Selbstzerstörung! Bauen wir gemeinsam an einer toleranteren Welt! Auch unsere Zukunft hängt von der Einfühlsamkeit und der Toleranz unserer Kinder ab!